"Singt
dem Herrn - ein neues Lied!"
Warum heute noch Gregorianischer Choral?
Einleitung
Der erste Blick: Der Blick in die Realität
Auf den ersten Blick scheint der
Gregorianische Choral als eine der ältesten uns überlieferten Formen
liturgischen Gesanges mit dem Titelthema "Singt dem Herrn ein neues
Lied" nicht so recht zusammenzustimmen. Das zeigt auch schon im Ansatz
die Fragestellung des "Warum heute noch ...?". In der Tat ist
der Gregorianische Choral in der liturgischen Praxis der nachkonziliaren
römischen Kirche kaum mehr präsent und spielt in ihr nurmehr eine fast
verschwindend geringe Rolle. Wie wäre es hier mit einem hinzugefügten
"noch"?
Um also zu erfahren, warum heute noch Gregorianischer Choral gesungen
werden sollte, was er in kirchlicher Liturgie heute bedeuten kann, müssen
wir ihn zunächst da wieder aufspüren, wo er uns begegnet, aber auch
fragen, warum er uns da nicht mehr begegnet, wo wir es eigentlich von
ihm erwarten dürften.
Der Gregorianische Choral erwuchs im frühen Mittelalter aus dem Gebet
und der Kontemplation der Mönche - vor allem des Psalters - und ist
eine besondere Form gesungener Meditation, also einer Übung, die mit
Hilfe der dauernden Wiederholung bezweckt, zu Bewußtseinsschichten vorzudringen,
die dem Verstand und allen Bestrebungen, immer wieder nach Anderem Ausschau
zu halten, zunächst verschlossen sind. Der Gregorianische Choral will
das, was die Gedanken übersteigt in einem anderen Medium als der Sprache
ausdrücken und ist damit echte seelische Ausdruckskunst, die in der
Form des einfachen Gesanges, der ruhigen Melodie die Ehrfurcht vor dem
Heiligen, das Moment der Verehrung des Ewigen hör- und vernehmbar macht.
Von daher kann der Gregorianische Choral von seiner Natur aus dort nicht
hohes Ansehen geniessen, wo es darum geht, althergebrachte, überlieferte
Formen von Gottesdienst gegen neue und andere auszutauschen, die von
der Zielvorstellung ausgehen, "vom modernen Menschen ‚verstanden' werden
zu können". Viele Vertreter dieser Auffassung waren daher ständig auf
der Suche nach Anderem als dem Bisherigen und sahen im Gregorianischen
Choral eine ideologisch gefärbte Erkennnungsmelodie für das Ewig- Gestrige.
Nicht wenige meiner für den Choral hochmotivierten Studenten müssen
nach Antritt ihrer ersten Stelle gewahr werden, daß der Pfarrer ihnen
bedeutet: "Nur ja kein Latein in der Messe. Das verstehen die Leute
nicht mehr." Diesen Seelsorgern konnte die muttersprachliche Liedproduktion
in den 70er und 80er Jahren nicht reichhaltig und flach genug sein,
um mit ihr endlich und endgültig den "alten Zopf" des Gregorianischen
Chorals abzuschneiden und mit dem "Cantate Domino canticum novum" als
schlagendem, "biblisch" verbürgten Argument im Rücken, eine Flut von
"neuen" geistlichen Liedern zu schaffen, die den modernen Menschen von
heute ansprechen sollten und eine "neue", vor allem junge Klientel in
den Gottesdienst bringen sollten. Diese Mentalität hat in über 20 Jahren
ihrer Wirksamkeit zwar dem Gregorianischen Choral in der liturgischen
Breitenwirkung in der Tat den Garaus gemacht, die Besucherzahlen der
Gottesdienste auf breiter Front aber nicht erhöhen und auch das Alter
nicht dauerhaft verjüngen können. Ihr muß die Feststellung der Liturgiekonstitution
vom 4. Dezember 1963, daß "die Kirche den Gregorianischen Choral als
den der römischen Liturgie eigenen Gesang" ansehe und er demzufolge
in all ihren Feiern den ersten Platz einzunehmen, habe wie blanker Hohn
klingen.
Nun hat sich aber die Situation in den 90er Jahren grundlegend gewandelt.
Der Musikmarkt hat sich des Gregorianischen Chorals bemächtigt. Er wurde
nun aus seiner verstaubten katholisch - liturgischen Ecke plötzlich
ins Rampenlicht "globalisierter" Esoterik befördert. Ein Schlaglicht
dieser Szene: Eine bekannte Versandhauskette pries ihre CD- Box mit
ungefähr diesen Worten an: "Unsere Edition "Klangwelt der Klöster" dokumentiert
auf acht CDs verschiedene liturgische Formen, verschiedene Repertoires
und unterschiedliche Gesangsstile einzelner Klöster. Von dieser frühen
Kirchenmusik geht eine Faszination aus, der man sich auch Jahre nach
dem Kirchenaustritt nicht entziehen kann"! Ein anderes: Choralkonzerte
in großen Städten, die oft länger als eineinhalb Stunden dauern sind
bis auf den letzten Platz gefüllt. Am Ende will kein Applaus, der ja
längst auch unsere Liturgien erreicht hat, die himmlische Ruhe stören.
"Wie schön", sagte mir ein Teilnehmer des Konzertes, "wie schön, daß
der Gregorianische Choral eine Renaissance erlebt!" Stefan Klöckner,
Professor für Gregorianik an der Folkwanghochschule in Essen, veröffentlichte
im März diesen Jahres zum 1400- jährigen Jubiläum des Papstes Gregor
(gest. 604), der dem Gregorianischen Choral seinen Namen gab, in der
Frankfurter Zeitung einen Beitrag, dem er die bezeichnende Überschrift
gab: "Gregorianik in Chill-out-Zonen". (d.s. die Bereiche in Diskotheken,
in denen sich die Besucher nach mehrstündigem Aufputschen mit harter
Musik und Drogen wieder "erholen")
Hauptteil
Der zweite Blick: Das Wort Gottes neu lesen
Ein
zweiter Blick wird zunächst nicht umhin können, das Wörtchen "neu" in
dem Psalmenzitat zu beleuchten. "Neu" ist ja in der Alltagssprache ein
restlos inflationär gebrauchtes Wort. Von der Werbung quasi dauerreserviert,
besagt es soviel wie "eigentlich das alte, doch schon wieder etwas anders,
aber auf alle Fälle (meistens nur geringfügig) besser". Vielleicht kann
uns bei der Suche nach einem vertieften Verständnis dieses Wortes der
Hl. Augustinus helfen. Er spricht in seiner Sermo 34: "Canticum novum
cantare, cuius sit. Admoniti sumus cantare Domino canticum novum.
Homo novus novit canticum novum. Canticum, res est hilaritatis; et si
diligentius consideramus, res est amoris. Qui ergo novit novam vitam
amare, novit canticum novum cantare. Quae sit ergo vita nova, commonendi
sumus propter canticum novum. Ad unum enim regnum pertinet omnia, homo
novus, canticum novum, Testamentum novum. Ergo homo novus, et cantabit
canticum novum, et pertinebit ad Testamentum novum." (Wir werden daran
erinnert, dem Herrn ein neues Lied zu singen. Der neue Mensch singt
das neue Lied. Das Lied ist eine Angelegenheit der Heiterkeit und wenn
wir es gewissenhaft betrachten, eine der Liebe. Wer also lernt, das
neue Leben zu lieben, lernt das neue Lied zu singen. Was also das neue
Leben sei, so sind wir zu Ermahnende wegen des neuen Liedes. Alles bezieht
sich auf das eine Reich, der neue Mensch, das neue Lied, das neue Testament.
Also wird der neue Mensch das neue Lied singen und wird zum Neuen Testament
gehören.)
Hier wird wohl deutlich, daß "neu" kein äußeres Merkmal eines Gegenstandes
ist und das "neue" Lied sich eben nicht durch eine fetzige Melodie und
ansprechenden "verständlichen" Text definiert und sich so doch mit Absicht
von Bisherigem abhebt, sondern es durch die Anbindung an den neuen Menschen
eine innere Qualität eben dessen beschreibt, der es singt. Es geht also
darum, was immer der neue Mensch singt, ob es Ausfluß und Antwort ist
auf seine Erfahrung, durch den Kreuzestod und die Auferstehung des Christus
einer neuen Schöpfung anzugehören. Oder anders: Ist er von den Wundern,
die der Inhalt der Theologie sind, persönlich so ergriffen, daß er spricht:
"Das sagt sich nicht, das singt sich nur!"? So gesehen ist das neue
Lied ein Lied, das dokumentiert, daß der Sänger die Großtaten Gottes
nie und nimmer vergessen darf und will. Sie durch stets in "Aktualpräsenz"
gestelltes Singen dem Vergessen zu entreissen, das ist also die zentrale
Aufgabe des immer wieder - weil immer aktuell - angestimmten Lobpreises.
Ich denke, diese Sicht wird auch durch den Verständnishorizont der beiden
Psalmstellen, in den von dem "canticum novum" die Rede ist, bestätigt.
Da ist zunächst Psalm 97, Vers 1: "Singt dem HERRN
ein neues Lied, denn Wundertaten hat er vollbracht." Und Psalm 149,
Vers 1: "Singet dem HERRN ein neues Lied, in der Gemeinde der Frommen
erschalle sein Lob." Es geht also in beiden Psalmen gar nicht um einen
Antagonismus "alt - neu" sondern um die Aufforderung, die Erfahrung
der omnipräsenten Wundertaten Gottes zeitlich dauerhaft (Psalm 97) und
räumlich umfassend (Psalm 149) gegenwärtig zu halten. Das Singen dieses
neuen Liedes ist aber zunächst ein Tun nach außen. Diesem Tun nach außen
muß ein Tun nach innen vorhergehen. Dieses manifestiert sich in der
Lesung, der "lectio divina", in der Beschäftigung mit dem offenbarten
Wort Gottes. Lesung meint aber nach dem althergebrachten Verständnis
alles andere als die Bemühung der Augen und des Gehirns in einer Art
schweigenden Denkens, den vorgefundenen Text rational auszudeuten und
zu begreifen. Die eigentliche "lectio" lebt von der Klangwerdung, lebt
von der Einübung in die Konkordanz von Sinn und Klang und bedarf deshalb
unverzichtbar des Organes Ohr, dem Beziehungsorgan. Dem Aufwecken der
Buchstaben zu Klängen und Lauten muß aber das Vernehmbarmachen zu den
Ohren der Menschen zur Seite gestellt werden. Der Sinn, der verborgen
ist, muß verstehbarer Klang werden, so daß eine Botschaft daraus wird,
die ankommt, weil sie beim Sänger angekommen ist, die bewegt, weil sie
den Sänger bewegt hat, die ergreift, weil der Sänger von ihr ergriffen
wurde und die packt, weil der Sänger von ihr gepackt wurde. Und bei
diesem Vorgang hat der Gregorianische Choral in der Tat Kompetentes
zu Wege gebracht und Mustergültiges zu sagen.
Der dritte Blick:
Das Wort Gottes vernehmbar machen
Der
nächste Blick - jetzt ins Konkrete - wird das Dargelegte an einem Beispiel
erläutern müssen (s. Notenbeispiel 1). Leider ist es im Rahmen dieses
Beitrages, der ganz auf die Wahrnehmung durch die Augen aus ist und
verständig gelesen werden will, nicht möglich, dem Lesen das Klangereignis
"akustisch" mitzuteilen, der Verfasser hofft aber dennoch, daß wesentliche,
auf den Klang bezogene Bemerkungen nachvollziehbar sind.
Notenbeispiel
1
Das Graduale "Tu es Deus" aus dem Codex St. Gallen 359 "Cantatorium",
geschrieben um 930
Das
Beispiel zeigt uns ein Gesangsstück des Gregorianischen Chorals in seiner
ersten schriftlichen Bezeugungsform. Es ist entnommen dem Codex 359
der Stiftsbibliothek von St. Gallen, einem sog. "Cantatorium", in dem
liturgische Gesänge für den Gottesdienst enthalten sind, an denen maßgeblich
ein Solist beteiligt ist. Es ist um das Jahr 930 geschrieben. In ihm
ist als Notation eine Art stilisierte Dirigierschrift verwendet, aus
der sich die Namen der Zeichen - "Neumen" (von neumos (gr.) die Handbewegung
von Bedeutung - ableitet. Es ist wichtig, festzustellen, daß es sich
hier nicht um einen musiktheoretischen Traktat aus dem Mittelalter handelt,
sondern um ein Dokument der gottesdienstlichen Praxis. Hier im Besonderen
um das Graduale des Sonntags Quinquagesima, das heute am 6. Sonntag
im Jahreskreis gesungen wird.
Das Graduale ist ein Gesangsstück, das nach der Lesung vorgetragen wird
und der Meditation über das gehörte Schriftwort Raum geben will. Sein
besonders ausführlicher Vertonungsstil zeitigt eine melodisch reiche
und rhythmisch sehr subtile Gestalt eher lyrischen Charakters. Für diese
schwierige Aufgabe steht die Schola bzw. der Solist im Dienst. Man kann
- ohne im einzelnen die Bedeutung der Zeichen zu kennen - sehr schön
an diesem Beispiel sehen, mit welch subtiler Sorgfalt, mit welch liebevoller
Hingabe und mit welch feinen grafischen Differenzierungen die Neumenzeichen
gesetzt sind, die auch noch durch eine ganze Liste von Buchstaben ergänzt
werden. Wohlgemerkt: es handelt sich nicht um Noten in unserem herkömmlichen
Verständnis, Noten, die einen melodischen Verlauf in einem "hoch-tief-
System" einer heute üblichen Notenschrift abbilden. Die Melodie in ihrem
genauen Verlauf läßt sich aus diesen Zeichen kaum bis gar nicht ableiten.
Sie ist "par-coeur" - auswendig! - gewußt. Was von ihr aufgezeichnet
wurde, ist ihr "spirit" - wenn man so will eben eine theologische Klanginterpretation
des gesungenen Wortes. Der Text ist dem Psalm 76 entnommen: "Du bist
der Gott, der allein Wundertaten vollbringt. Du hast Deine Tauglichkeit
vor den Völkern kundgetan" (Vers 15). Was also geschieht: Der Sänger
versucht niederzuschreiben, was nicht niedergeschrieben werden kann:
die ihm durch intensives, wiederholtes hörendes Lesen alltäglich geschenkte
Erfahrung der Wirklichkeit Gottes in seinem Leben. Ihr gibt er eine
klingende Melodiegestalt, um mit ihr "in der Gemeinde der Frommen sein
"neues" Lied von den Wundertaten des HERRN zu singen. So wie die Melodiegestalt
durch das stetige Hören auf den Klang und den Sinn der Worte in die
Schatztruhe seines Herzens heimgeholt wurde, so läßt er sie vernehmbar
werden durchs Singen im liturgischen Vollzug am besonderen liturgischen
Ort. Dieser Sänger des Graduale hat also sich dem Heiligen Wort mit
größter Ehrfurcht genähert, hat gespürt, daß alles Geschehen von jedem
Atemzug seines Lebens bis zur Perspektive eines ewigen Lebens im Licht
des Auferstandenen eine Manifestation dieses "Tu es Deus, qui facis
mirabilia" ist, hat persönliche Beziehung zu diesem Wort aufgenommen
und läßt nun in seinem Herzen eine Antwort wachsen, die intimer und
herrlicher kaum ausgesungen werden kann. Meister Eckhart spricht davon,
"daß Beziehung das Wesen von allem ist". Hier kann also am konkreten
Beispiel deutlich werden, worum es geht: Der Sänger fängt in den Tönen
auch das noch ein, was die Gedanken übersteigt. Hier ein Beispiel, wie
der Gregorianische Choral eine seelische Ausdruckskunst ist, die in
der Form des einstimmigen Gesanges mit ruhiger Melodie die Ehrfurcht
vor dem Heiligen hör- und vernehmbar macht, dabei höchstes künstlerisches
Niveau beanspruchen darf.
So können wir konstatieren, daß der Gregorianische Gesang sprachlogischen
Erfordernissen folgt und seine Ästethik von Wort und Text gezeugt ist
bei gleichzeitiger Implikation von Sinn. Wenn nun aber Liturgie ein
"theo"-logischer Vorgang ist, in dem Gottes Wort zur Sprache kommt und
sein Wort verkündet wird, dann wird eine Musik, die dieses Wort in unnachahmlicher
Weise be- "tont" und ihm einen unverwechselbaren Klangleib verleiht,
einen Platz in diesem liturgischen Vollzug beanspruchen können und dürfen.
Das aber hat Konsequenzen. Der Gregorianische Choral - so gering seine
Breitenpräsenz in der nachkonziliaren Liturgie "noch" ist, darf in der
kirchenmusikalischen Ausbildung seit jeher einen recht breiten und wichtigen
Raum einnehmen. Geschieht dies vielleicht deswegen, weil zumindest die
dort Lehrenden wissen und die Lernenden erfahren, daß der Gregorianische
Choral eine Schule mit einem besonderen theologischen Leistungskurs
ist, in der farbig, kreativ und lebendig, ja sogar subjektiv und mustergültig
und künstlerisch hochwertig gelernt werden kann, was Liturgie im tiefsten
meint und daß er der Liturgie wieder die mystische Komponenete zu erschließen
vermag, die die aufgeklärten Zeitgenossen mit so bewundernswürdiger
Perfektion aus ihr eliminiert haben. Ich weiß aus meinen langjährigen
Erfahrungen in der Vermittlung des Gregorianischen Chorals, daß meine
Studenten, die durch diese Schule gegangen sind, auch eine Motette von
Bach und eine Messe von Mozart anders verstehen. Die zweite Konsequenz:
Wenn wir heute den Gregorianischen Choral interpretieren wollen, können
wir das nicht tun, ohne diese in diesen Handschriften niedergelegten
Interpretationen zur Kenntnis zu nehmen und intensiv zu studieren. Die
umfassenden Forschungen und präzisen Studien von dem Solesmer Mönch
Eugène Cardine (1905-1988) haben dieses Gebiet ganz neu und kompetent
vermessen. Sie sind in seiner Semiologie grundgelegt, einer hermeneutischen
Wissenschaft, die aus dem Studium der Zeichensysteme der alten Handschriften
Aussagen über die Ästethik und die Interpretation macht. Sie darf heute
weltweit als Richtschnur für eine angemessene und schlüssige Interpretation
gelten. Wenn auch die Originale dieser Handschriften heute in klimatisierten
Tresoren verwahrt werden, so wird dies doch heute umfassend möglich
durch das 1979 erschienene "Graduale Triplex", einer Ausgabe des Graduale
Romanum, das - was die Messe betrifft - den Großteil des Repertoires
verzeichnet. In diesem Graduale sind unter bzw. über den Melodieverläufen
die Neumen zweier ältester Handschriften mitabgedruckt (s. Notenbeispiel
2).
Notenbeispiel
2
Das Graduale "Tu es Deus" aus dem Graduale Triplex (1979), das neben
der Melodieaufzeichnung auf vier Linien in der sog. Quadratnotation
noch die Neumen der St. Galler Handschriftenfamilie und die Neuemne
der Handschrift von Laon wiedergeben. (Hier im Notenbeispiel 2 ist die
Handschrift Laon aus Gründen der Übersichtlichkeit getilgt.)
Es
müßte mit den Ausführungen hinlänglich klar geworden sein, daß eine
Ausführung des Gregorianischen Gesanges, die sich nur an dem gedruckten
Notenbild orientiert, ungenügend bleiben muss und inzwischen obsolet
geworden ist. Zugegebenermaßen war eben diese Singweise, häufig noch
ergänzt durch Bedingungen, die sich nicht am theologischen Sinn orientierten
sondern an praktischer Ausführbarkeit, nicht dazu angetan, vor dem Konzil
die Wertschätzung des Gregorianischen Chorals zu heben.
Der vierte Blick:
Das Wort Gottes neu singen
Der
vierte Blick wendet sich einer kleinen Antiphon zu, an der das bisher
Gesagte noch einmal exemplarisch zu Wort kommen soll, um das Dargelegte
an einem Beispiel zu vertiefen, also die eigentlich angemessene Stellung
des Gregorianischen Chorals und seines Beitrages für unser Glaubensleben
in "neue" Erinnerung zu rufen. Die Antiphon (Notenbeispiel 3) rahmt
im Stundengebet der Kirche den Psalm 117 am 3. Adventssonntag.
Notenbeispiel
3
Der Text: "Jerusalem, freue dich; freue dich mit großer Freude: es wird
kommen für dich der Heiland, alleluia." Das ist zunächst prophetische
Verheißung an Israel, aber auch Bild, mit dem jeder Christ direkt Kontakt
aufnehmen kann: Jerusalem ist ein Bild für mich als den, bei dem Gott
durch die Taufe Wohnung genommen hat und "Salvator" ist für mich Christus,
der in seinem Tod und seiner Auferstehung mir wieder den Zugang zum
verlorenen Paradies des ewigen Lebens eröffnet, mich damit heil, vollständig
und im umfassenden Sinn wieder ganz als sein Ebenbild herstellt. So
hat mein Leben einen unveräußerlichen Anker in der Tatsache, daß Gott
in mir Wohnung genommen hat und so ist mein Leben auf eine durch alle
Todverfallenheit hindurch sichtbare Perspektive hingeordnet. Beides
zeitigt zutiefst innerliche Freude, die auch nach außen sich zu manifestieren
versucht, z.B. singend-preisend.
Um die besondere Gestalt der Antiphon zu erfassen, empfiehlt es sich,
den lateinischen Text mehrmals laut zu lesen, auch deutlich den Klang
auskostend. Wir erspüren einen zweizeiligen Organismus mit einem klar
ausdifferenzierten, vom Atem gesteuerten Sprachbogen, der die reguläre
Struktur eines Psalmverses mit Spannungshöhe beim Asteriskus (*) und
Abspannung zum 2. Versende aufweist. Beide Teile sind ihrerseits aus
kleineren Bögen zusammengesetzt, die den großen Bogen auf- bzw. abbauen.
Der Höhepunkt liegt bei dem Wort "quia", das als einziges die höchsten
Noten und auf beiden Silben Zweinotengruppen enthält. Auf den ersten
Blick mag es unverständlich sein, daß der Höhepunkt des Liedes auf diesem
Wort liegt. Auf den zweiten aber mag uns klar werden, daß hier im Text
von etwas die Rede ist, das wir nicht begreifen können: Gott wendet
sich uns unverdient zu. Bedenken wir, daß die Antiphon nicht heißt:
Der Heiland kommt dich zu retten, also nun freu dich mal richtig! Nein!
Die Freude als seelische Emotion ist Erkenntnismittel für die Heilstatsache.
Deswegen muß die Antiphon auch mit "alleluia" enden. Sodann wird uns
auffallen, ohne daß wir im einzelnen Noten lesen müssen, daß der Verlauf
der ganzen Melodie der gesprochenen Rede aufs Genaueste folgt. Die Betonungen
des Textes finden eine sehr schöne, auf Abwechslung hin ausgerichtete
Gestaltung: "Jerusalém" (die hebr. Betonung liegt auf der letzten Silbe!)
und "gáudio" erhalten eine bezüglich ihrer Umgebung relativ höhere Note,
die betonten Worte danach, "gaude" und "magno" sind dagegen mit einer
kleinen zweitönigen Figur versehen. Auch im abspannenden zweiten Teil
gilt diese Abwechslung, die besonders schön bei "tibi" den Abwärtsbogen
aufhält und mit der höheren Note bei "tíbi" quasi einen musikalischen
Fingerzeig gibt, daß die Heilstat Christi den Sänger persönlich meint.
Dazu geben uns die über die Noten gesetzten Neumen aus dem Codex Hartker
(um 1000 geschrieben) noch wichtige zusätzliche Hinweise: Man male das
Zeichen bei "gaude" mit der Hand in die Luft um zu sehen, daß man beim
Singen von "gaude" den Mund weit machen muß: "gaude - freue dich" läßt
sich mit zusammengebissenen Zähnen eben gar nicht singen. Das Zeichen
bei "alleluia" gibt einen feinen Hinweis darauf, daß "l" singend auszukosten,
es ist, was wir schon längst vergessen haben, ein Halbklinger. So wird
schon an diesem kleinen Stück deutlich, wie sehr der Choral bis in die
feinsten Verästelungen aus dem Wort lebt, wie der Klang des Wortes ihm
Formelemente gibt, wie der Sinn des Wortes ihm Ausdruck und Gliederung
verleiht und energievoller Rhythmus sich mit abgewogenem Maß paart und
so "außen" und "innen" vollständig zusammenstimmen. Als "musica orans"
ist es so ein Lied, das wie ein kleiner Diamant ist, der sich in mehr
als 1000 Jahren Gesangspraxis nicht abnutzt, das, wenn wir so wollen,
als gesungenes Mantra dienen kann. Die Dichterin Marie Ebner Eschenbach
hat es so formuliert: "Ein kleines Lied, wie geht's nur an, daß man
so lieb es haben kann? Was liegt darin? Erzähle! Es liegt darin ein
wenig Klang, ein wenig Wohllaut und Gesang, und eine ganze Seele."
Dies beim häufigen Singen oder auch Hören neu zu erleben, ist vielleicht
das erstaunlichste und offensichtlich wieder vielen Suchenden, die plötzlich
durch wiederholtes Kauen die Süßigkeit von Vollkornbrot entdecken, ein
Staunen wert, nachdem sie sich lange Jahre von "gesungenem Fastfood"
haben abspeisen lassen. Natürlich ist das Repertoire des Chorals so
groß und auch teilweise künstlerisch so hochstehend, daß nicht jeder
alles mitsingen kann. Aber verhält es sich nicht auch bei der Ikone
so: Es will und kann nicht jeder eine Ikone schreiben, aber als Glaubensbild
hat sie eine bis heute nicht getrübte Aussagekraft. Doch einmal auf
die Fährte gebracht, wird gerade auch mit dem Choral ein inneres Hören
wachsen, so daß diese in der Antiphon ausgesungene Freude auch in einem
hörenden Lassen mitschwingen kann, ohne daß der vernünftige Kopf mit
seinem Verstehenwollen allezeit hinter der Freude herhinkt.
So mag an diesem kleinen Stück deutlich geworden sein, daß der Choral
eigentlich gesungenes Gebet und Zeugnis religiösen Lebens ist, das in
Gemeinschaft ausgeübt und vollzogen wird. Ohne eigenes inneres Engagement
von seiten des Ausführenden wie des Hörenden - das meint der oft so
mißverstandene Begriff der "actuosa (nicht "activa"!) participatio"
eigentlich - bleibt das Wesentliche verborgen sowohl beim Hören einer
Choral-CD wie auch beim nur auf intellektuelles Verstehen und Aktivität
ausgerichteten liturgischem Vollzug. Bei demjenigen, der bereit ist,
diese "Gage" zu investieren, vermag der Choral ebenso wie auch die Ikone
das Einüben in das "Sich- Loslassen" zu bewirken, und weil beide aus
dem Geist der Hingabe an das Heilswort erwachsen sind, vermag der Choral
beim Singenden und bei den Hörenden, vermag die Ikone beim Schreibenden
und den Betrachtenden diesen Geist zu wecken und zu fördern. Dies kleine
Lied steht so also da als beredter Zeuge für die unbestreitbare religiöse
Tiefe des Gregorianischen Chorals und der ihm eigenen Kraft, in die
Tiefe zu wirken und zur Mitte zu führen, Elemente, die die hochstehende
Form der Meditation begründen. Er läßt durch seine im besten Sinne unerreichte
Einfachheit den tiefsten Sinn des göttlichen Wortes als Logos hörbar,
spürbar, fühlbar, offenbar werden.
Schluß
Der fünfte Blick: Rückblick und Ausblick
Der
5. Blick ist ein Blick zurück und voraus. Wer immer einen Blick tut
in die abendländische Musikgeschichte, die im Mittelalter wesentlich
eine Geschichte der liturgischen Musik ist, wird dort viele Zeugen finden,
die vom Wort Gottes sich ergreifen liessen, sich vom Geist Gottes inspirieren
liessen, um diesem Wort Klanggestalt zu geben. Am Beginn dieser Geschichte
steht der Gregorianische Choral, der diese Wechselbeziehung modellhaft
ausgeprägt und mustergültig formuliert hat. Er hat mit seiner Kraft,
seiner Tranparenz und Reinheit vermocht, "objektive" Liturgie und "private"
Kontemplation zu vereinen, zwei Bereiche, die heute leider nur noch
getrennt wahrgenommen werden. Hier liegt der Grund, daß die Kirche ihm
in ihren Verlautbarungen zur Kirchenmusik den Ehrenprimat zuerkennt,
der ja nicht bedeutet, daß der Choral den einzigen Platz einnehmen sollte,
aber ganz gewißlich eben einen. Das heißt aber auch, daß es in der Kirche
wieder Orte geben muß, an denen dieser Gesang ausschließlich geübt wird.
In der weiteren Musikgeschichte ist es Komponistenpersönlichkeiten wie
Dunstable, Dufay, Ockeghem, Josquin des Prés, später auch Bach und Schütz
und auch Mozart und Bruckner bis hin zu Strawinsky auf ihre einzigartige,
tiefe, gültige und kompetente und qualitätsvolle Weise gelungen, das
Wort Gottes Klang werden zu lassen. Was also? Der Vielfalt der Qualität,
das Wort Gottes Klanggestalt werden zu lassen, sollten wir Raum in unseren
Liturgien verschaffen. So bedeutet das "neue Lied" zu singen, nie und
nimmer und nirgendwo und auf keine Weise das in uns Fleisch gewordene
Wort Gottes der Vergessenheit anheim fallen zu lassen so wie es der
Psalm 118 in immer wieder neuen Wendungen aussagt, auch mit dieser:
"Be- ‚herz'- igen will ich Dein Wort und Deine Worte nicht vergessen."
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