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Der Gregorianische Choral - eine gesungene Ikone
Allenthalben sieht sich der Gregorianische Choral ganz neu ins Rampenlicht
gestellt. Dazu haben auf der einen Seite beigetragen die veränderten Rezeptionsformen
(Veröffentlichungen auf Tonträgern), aber auch die veränderten Kommunikationsformen
(Internet). Wesentlich aber ist der Grund das wiedererwachte Interesse
sehr vieler Menschen, die auf der intensiven Suche nach ihren spirituellen
Quellen wieder und wieder zu der ältesten Form der gesungenen Meditation
zurückfinden, nicht zuletzt auch die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung
mit diesem Gesang. Die in der Mitte der neunziger Jahre sich kurzfristig
deutlich und teilweise sehr laut artikulierende esoterische Welle und
auch die Verwendung von Choralelementen in der Popularmusik sind schon
wieder vergangen.
In diese sehr bewegte und bewegende
Situation hinein halte ich es deshalb für sinnvoll, auch an die Startseite
hier die Frage “Was ist es um den Gregorianischen Choral?”
an den Anfang zu stellen.
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Ich nehme nicht
ein Stück aus dem Repertoire, sondern nehme den Ausgang von einem
Bild, das sich im Codex Hartker befindet. Diese alte Handschrift
mit Gesängen zum Chorgebet entstand um 1000. Das von großer Ruhe,
ja von großer Stille geprägte Bild zeigt die Szene einer Weitergabe,
einer Mitteilung. In der linken Bildhälfte sitzt, ja trohnt, eine
große Gestalt, die mit einem kreisrunden Nimbus versehen und in
ein liturgisches Gewand gekleidet ist. Der Nimbus weist ihn als
Heiligen, das Ypsilon auf dem in ruhigen Falten fallenden Gewand
weist ihn als Wissenden, als Weisen aus, der in seinem Leben Entscheidungen
für sich getroffen hat. Er hat das “Ohr seines Herzens”
aufgemacht, er praktiziert “Ephpheta” (griechisch: “tu
dich auf”). Auch seine Augen schauen weit nach innen, wollen
weder etwas Bestimmtes anschauen, noch jemanden fixieren, schon
gar nicht als Sinne rezeptiv konsumieren. Die Augen hören mit den
Ohren zusammen nach innen. Diese Gestalt ist im Geheimnis daheim.
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Die Taube, die sich auf seiner rechten
Schulter niedergelassern hat, ist die Quelle der In-”spiration”.
Der Heilige Geist, der sich seit alters her für die Seele ins Bild der
Taube fassen lässt, die ja als Vogelwesen der bewegten Luft eines “Oben”
angehört, bedarf dieser Haltung der nach innen gekehrten Stille, da ER
sich sonst nicht verständlich machen kann. “Spiritus” meint
ja sprachlich zunächst die Luftbewegung des Atems oder auch des Windes
(vgl. 1 Kön. 19). Was die Taube an das Ohr weitergibt, das im Wirkungsbereich
des Nimbus liegt, der ja immerhin 4 von 5 Sinnen erfasst, ist denn auch
mehr als Nachricht oder Information, es ist offensichtlich eine Botschaft
der Beziehung.
Nun gibt die konzentrierte, ruhig
und gelassen thronende Gestalt erstaunlicherweise das Gehörte nicht mit
dem Munde weiter, sondern mit einer der gehörten “Bewegung”
adäquaten, doch schon etwas tieferliegenden, erdnäheren Handbewegung,
die die ganze für sie freigehaltene Bildmitte in Anspruch nehmen darf:
Das als Geheimnis Gehörte tritt ins offensichtlich Sichtbare. Die Hand,
die in ihrer Bedeutungsgröße gezeigt wird und deren Form - parallel etwas
nach schräg unten verschoben - an die Taube erinnert, bewegt sich vor
einer Tür, deren Vorhang sich in Richtung der Weitergabe öffnet: Es geschieht
“revelatio”, die Enthüllung eines gehörten Geheimnisses ins
Sichtbare. Die rechte Hand unterstützt die Weitergabe der Botschaft, die
dem Heiligen wohl sehr am Herzen liegt.
Auf diese Bewegung der linken Hand
sind nun die Augen einer kleiner dargestellten Person gerichtet, die in
der rechten Bildhälfte sitzt. Sie sitzt gekrümmt, angespannt und mit über
Kreuz geschlagenen Beinen in einer Haltung, die für den gelassenen Weisen
links unvorstellbar ist. Diese kleinere Gestalt sucht mit angestrengten
Augen, für deren Aufnahmefähigkeit er - wie seine Haltung zeigt - offenbar
sogar die Ohren benötigt, die sichtbar gewordenen Bewegungen auf einer
eckigen Tafel (vgl. den runden Nimbus) möglichst exakt zu fixieren. Er
versucht die “Quadratur des Kreises” mit einem Federkiel,
der ja von einem Vogel stammt, und der im parallel schrägen Duktus von
Taube und Hand noch weiter abwärts führt. Dieser Richtungsablauf von oben
links nach unten rechts kommt in seiner linken Hand, die das Rechteck
der Tafel festhält zum Tiefpunkt und zum Stillstand. Die Haken und die
Kritzelzeichen, die auf dem Bild genau nicht entziffert werden können,
sie sind das materielle, dingfestgemachte Substrat der Inspiration, ein
Analoges zu dem in Druckerschwärze sich inkarnierenden Wortes.
Das hier Beschriebene vollzieht sich
innerhalb einer Architektur, wir können sagen, es wird von Architektur
be-”dacht”, von einer Kunst, die am Anfang der bildenden Künste
steht, ja der Kultur überhaupt, das diese Kunst mit ihrem Bauen das elemtare
Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit befriedigt und damit eine Grundvoraussetzung
für menschliche Gemeinschaft schafft. Ernst Bloch hat so einen Raum, in
dem sich der Vorgang einer Beziehungsaufnahme ereignet, das wunderschöne
Wort von der “gotischen Innenstube” geprägt.
Mit dem erreichten Tiefpunkt und
der verfolgten Richtung der Weitergabe von links nach rechts ist die Bedeutung
des Bildes allerdings nicht erschöpft. Jetzt schiebt sich im aktiven Zurückgehen
des Weges unser En-”gage”-ment ins Spiel, denn was der Schreiber
fixiert hat, ist uns überkommen. Wir finden es in den frühesten Handschriften
der liturgischen Gesänge, z. B. in dem Ausschnitt des Graduale “Tu
es Deus” zum alten Sonntag Quinquagesima.
Die feinst ausdifferenzierten, mit
subtiler Sorgfalt und liebevoller Hingabe über den Text gesetzten Zeichen
aus einem offenbar großen Vorrat sind, in Bewegung zurückgeführt, das
entscheidende Medium, um jene für den Sänger so bedeutungsvolle und offenbar
von Erfahrung getränkte Antwort als Lob dem zu singen, von dem er das
wichtige Wort des Lebens erhalten hat: “DU bist der Gott, der allein
Wunderbares tut...”
Das also wäre die Aufgabe: Die uns
überkommenen toten Zeichen des Schreibers zunächst wieder in einer Bewegung
erstehen zu lassen, in einer Bewegung allerdings, die gesteuert wird von
der Beziehung zu einem Geheimnis, das der Geist Gottes jedem in das Ohr
seines Herzens als Einladung und als Zusage der Teilhabe an göttlichem,
von keiner Zeit begrenzten Lebens zuspricht, die als Resonanz tönt, als
Lobantwort auf das gehörte Wort des Lebens. Und so sehr der Text die persönliche
Verfassung der lobenden Dankbarkeit eines Einzelnen artikuliert, so deutlich
muss gemacht werden, dass es sich dabei nicht um ein individuell formuliertes
Lob handelt, sondern um ein “vorformuliertes” des alttestamentlichen
Psalters, der den Gläubigen als geoffenbartes Wort Gottes gilt.
Der Intensität der subjektiv angeeigneten
Haltung der Dankbarkeit und der Freude über diese Beziehung, die Gott
zum Menschen auftut, genügt aber das gesprochene Wort nicht, sie verlangt
nach der der Liebesbeziehung adäquaten Form des Singens. Diese hat der
Gregorianische Choral modellhaft ausgeprägt und mustergültig formuliert.
Wen die Frage umtreibt, was es um
den Gregorianischen Choral ist, der wird mit ausschließlich historischen,
wissenschaftlichen, semiologischen und liturgischen Fragen zu seinen Rändern,
nicht jedoch zu seinem Kern vorstoßen, genauso wenig wie die Frage nach
der Menge des verwendeten Goldes eine Antwort auf die Qualität der Ikone
geben kann. Ihr Wert wird wesentlich vom persönlichen Bezug zu jenem Geheimnis
geprägt, das der Gläubige für die Deutung seiner eigenen Bestimmung in
der Ikone dargestellt sieht.
Den Gregorianischen Choral kann man
nicht konsumieren. Er ist nicht die Vertonung eines theologischen Sachverhaltes,
sondern gesungenes Gebet, also unter künstlerischem Horizont subjektive
Aneignung desselben.
Das beigefügte Schema versinnbildlicht
diese dreiseitige Symbiose, die den Gregorianischen Choral kennzeichnet.
Er trifft sich hier mit der Bedeutung
der Ikone, die auf bildnerischer Ebene dieselbe Aufgabe hat. Ohne eigenes
inneres Engagement aber bleibt das Wesentliche verborgen. Die Gesänge
des Chorals - das war mein Anliegen mit dieser Bildinterpretation - strahlen
für diejenigen, die bereit sind, dieses Engagement zu investieren, eine
große Ruhe aus, ohne innere Spannung einzubüßen. Diese Ruhe teilt sich
all jenen mit, die es wagen, die Hektik des Alltags abzulegen und hinzuhören.
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