Vom
Ethos der Tonarten
Betrachtungen ausgewählter Beispiele der Toni-Darstellungen
an den Kapitellen von Cluny.
Einleitung
Im
Sommer 1986 war es mir vergönnt, das Burgund zu bereisen. Am Ende der
Begegnung mit den architektonischen und bildnerischen Herrlichkeiten
stand auch ein Besuch von Cluny. Nachdem ich
mich vor der Reise eingehend mit der Geschichte und dem Bau der Abtei
befasst hatte, stand ich fassungslos vor der systematischen Zerstörungswut
der Revolution von 1789. Nach 880 Jahren war die gigantische Abtei,
die bis zur Errichtung des Petersdomes in Rom die größte Kirche der
Christenheit in ihren Mauern beherbergte - Hinweis auf Bild, Mappe Nr.
2a -, zur nationalen Beute erklärt und 3 Jahre später an einen Bauunternehmer
aus dem nahen Mâcon als Steinbruch verkauft
worden, für 2 Millionen Franc Papiergeld, das ein paar Wochen später
nicht einmal mehr die Tinte unter dem Kaufvertrag wert war. Vandalismus
ist noch eine bodenlose Untertreibung für das, was sich bis 1823 dort
abspielte.
Bei
einer Sprengung in diesem Jahr fallen im Chor auch jene berühmten 8
Kapitelle, die den Chor trugen und eine Corona sonderlicher Art um den
Altar bildeten und deren drei heute Gegenstand näherer Betrachtung sein
sollen. Sie blieben wie durch ein Wunder erhalten, doch verletzt waren
sie alle. Sie sind heute mit anderen Gegenständen als Reste im Musée
Ochier aufbewahrt. Diese Reste zeigen eigentlich nur, wie
brutal der Spekulant aus Mâcon mit seiner
schwarzen Bande die Goldgrube ausgeplündert hat.
Doch
müssen wir ehrlicherweise auch sagen, dass das
burgundische Zion nicht von heute auf morgen starb. „Die Mutter der
abendländischen Kultur“ - so nannte es der berühmte französische Architekt
Violet- le Duc - war am Vorabend
der Revolution nur noch ein riesiger Körper ohne Seele. Von den einstmals
450 Mönchen waren vielleicht vierzig übriggeblieben,
die den Strengen Regeln des heiligen Benedikt nur noch wenig, dem stets
gut gefüllten Weinkeller umso mehr abgewinnen konnten. Die große Zeit
des Petrus Venerabilis, als 600 Klöster und 12'000 Mönche in ganz Europa
dem Abt von Cluny unterstanden, gehörte ebenso
der Vergangenheit an wie die Bauten der berühmten Äbte Odo, Majolus,
Odilo und Hugo, die heute noch am 29. April als Heilige gefeiert werden
und für die das Antiphonale eigene Antiphonen
ausweist. Die vierte unter ihnen erzählt vom Tode des hl. Hugo während
der Auferstehungsliturgie und nimmt dabei melodisch Bezug zum Exsultet
(AM 876). Dass 600 Jahre später der Prior Dom Dathoze
1750 einen Teil des architektonischen Wunders abreißen und an dessen
Stelle ein Schloss im Stil Ludwig des XV. errichten ließ, war eigentlich
schon der Anfang vom Ende. Seinen politischen Einfluss hatte das Kloster
längst an Paris verloren. Und das, was die verweltlichten Prälaten durch
den Neubau an Komfort gewannen, verlor die Kunstwelt an romanischen
Schätzen.
Hauptteil
Die
berühmten Kapitelle mit den Skulpturen entstehen wohl zwischen 1109
und 1122. Sie sind in dreifacher Hinsicht ausgezeichnet:
·
Der musikalische Tonus wird durch plastische Mittel ausgedrückt.
·
Es liegt ein geschlossener
Zyklus vor.
·
Jedem Tonus
ist eine umgebende Inschrift zugeordnet.
Weiterhin
ist anzumerken, dass die Kapitelle zwar alle acht Tonarten aufweisen,
dass aber nur die ersten vier gut erhalten sind. Die zweite Reihe am
zweiten Kapitell wird in den Figuren nicht mehr verständlich. Neben
den Toni-Darstellungen findet sich an den Kapitellen bekanntlich noch
der Zyklus der Jahreszeiten, dem vier Tugenden
beigeordnet sind. An den letzten Kapitellen kommen dazu noch
die vier Paradiesflüsse, vier Paradiesbäume und die Arbeiten auf der
Erde.
Damit
haben wir mittelalterliche Zeugen vor uns, in denen musikalische Sachverhalte
mit einem plastischen Motiv und mit dem Sinn eines Wortes in Verbindung
gebracht und ganzheitlich geklärt werden.
Zusammen
mit den anderen Kapitellen dokumentieren sie auf einzigartige Weise
den Zusammenhang, der zwischen Mathematik, Baukunst und Musik herrschte
und als Gleichnis göttlicher Harmonie galt.
Die
drei ausgewählten Beispiele liegen Ihnen in Kopien vor, die ich von
einem Fotoabzug der damals in Cluny erworbenen
Dias anfertigte. Sie sind nur ein schwacher Abglanz der Herrlichkeit
der Kapitelle, mögen aber heute Abend zur Veranschaulichung genügen.
Wir sehen an ihnen,
·
wie die Personen mit ihren
Instrumenten in der Mandorla als Schale wie auf einer Bühne - lebhaft
bewegt - agieren,
·
wie der Meissel den materiellen
Charakter des Steines vergessen gemacht hat - auch hier ist ein Geist
Sieger über den Stoff geblieben.
Die
Kapitelle zeigen eigentlich Un- darstellbares:
Sie
veranschaulichen die gregorianischen Töne, ein Musiksystem, ein sinnlich-
übersinnliches, in dem das Diesseits dem Jenseits ohne Bruch verbunden
war.
Wir
müssen uns aber vor einer genaueren Einzelbetrachtung doch drei wichtige
Gegebenheiten des mittelalterlichen Musikverständnisses vorab klarmachen.
1.
Mittelalterliches Musikverständnis kennt weder im Sinne einer Ideenlehre
so etwas wie „die Musik an sich“ noch ist der in der Musik entstehende
Gefühlsverhalt an ein subjektives Individuum gebunden. Deswegen
müssen wir auch klar unterscheiden und beachten: Es geht hier zunächst
nicht um den Charakter einzelner Gesänge, wie wir sie heute vielleicht
empfinden, sondern eben um den 1. Tonus.
In der Anlage befindet sich dann aber auch noch eine Seite, auf der
Charakterisierungen in unserem Sinne zusammengestellt sind. Sie stammen
aus einer Liste, die ich 1984 von dem Kantor der Benediktinerabtei En-Calcat
erhielt.
2. Im Mittelalter war diese Absolutheit schon deswegen
unmöglich, weil Musik als Wissen galt und klar anderen Wissenszweigen
zugeordnet war (Quadrivium: Musik, Astronomie,
Geometrie und Arithmetik).
3.
Der in der Musik entstehende Gefühlsverhalt war innerhalb des „Ordo“ geregelt, d.h. die seelischen Formen des Musik-Erlebens
waren nach Kategorien geordnete, allgemeine Haltungen, deren Herkunft
wahrscheinlich auf die Lehre der Temperamente zurückzuführen ist.
4.
Die Umschriften werden uns Hilfe leisten können bei der Deutung der
bildnerischen Darstellung, umso mehr, als uns die Gebärdensprache des
Mittelalters nicht mehr ohne weiteres verständlich ist.
5.
Die Umschriften ihrerseits verweisen im symbolischen Ausdruck auf außermusikalische
Zusammenhänge und damit klar auf die Gebundenheit des musikalischen
Denkens.
Der 1. Ton
Die
Erklärung des 1. Tons ist schwierig. Wir müssen uns vor Augen stellen,
dass in der Zahlensymbolik die hier genannte Zahl eigentlich keine Zahl
wie irgend eine andere ist - der Grieche nennt sie monás im Gegensatz zu arithmós -,
sondern für Beginn, Quelle, Ursprung steht. Sie wird als Ursprung des
ihr Folgenden, als Ursprung der Vielheiten angesehen. An dieser Bestimmung
schon wird verständlich, wenn - freilich in platonischer Philosophie
wurzelnd - die erste Zahl eine Gottbezogenheit offenbart (In der Tat
ist das der Eins zugeordnete Kreissymbol ja auch mit göttlicher Wesensbestimmung
gekoppelt). Der lateinische Schriftsteller Ambrosius Theodosius Macrobius,
der Anfang des 5. Jhs. gelebt hat, schreibt
in seinem neuplatonischen Kommentar zu Ciceros „Somnium
Scipionis“:
„Unum autem, quod
monas, id est unitas, dicitur,
et mas idem et femina
est, par idem atque impar, ipse non numerus sed fons
et origo numerorum.
Haec monas, initium
finisque omnium,
neque ipsa principii
aut finis sciens, ad summum refertur deum eiusque
intellectum a sequentium
numero rerum et potestatem sequestrat.“ [„Die Eins aber, die monas
genannt wird, ist also Einheit, sie ist gleich männlich und weiblich,
ebenso gerade und ungerade, sie selbst ist nicht Zahl (arithmós!)
sondern Quelle und Ursprung. Diese Einheit, Beginn und Ende von allem,
kennt weder Anfang noch Ende, gehört damit zum Höchsten Gott und ist
Vermittler seines Geistes zu der Zahl aller folgenden Dinge“.] (Es gibt
also eine klare Verbindung von oben und unten!)
Das
Mittelalter ist weitergegangen und hat Einheit und Musik gleichgesetzt,
da es der Überzeugung war, dass sie auf dem Grund der gottnahen Einheit
ruht.
Wir
haben schon gesehen, dass das Einheitliche dadurch gekennzeichnet war,
dass es eine Beziehung zum Vielfachen hatte, und so hat als Ursprung
aller Dinge der erste Modus eine Eigenschaft, die ihn als „fons
et origo“ (vgl. Tropus!) ausweist.
Er also ist die Form des einfachen, des einmal gefalteten, das die Entfaltung
zur Vielheit in sich trägt. Jetzt ist klar, dass dem 1. Modus eine gehaltreiche
Summe von Affekten zugeordnet wurde:
·
Die „nobilitas“:
d.i. eine Vornehmheit, die zu ihm gehört wegen
des göttlichen Wesens der Einheit.
·
Die „gravitas“:
d.i. eine aus dem selben
göttlichen Wesen abgeleitete Würde.
·
Die „vagatio
curialis“: d.i.
eine Melodienweite besonders vornehmer Grösse.
·
Die „morositas“:
d.i. ein Ernst, eine Haltung der Strenge.
Hier
liegt wohl eine Annäherung an die Jünglingsgestalt begründet, die einen
sog. „iuvenis morosus“ zeigt (Benedikt
Gregor Dialoge: „Von Kindheit an zeigte er die Einsicht eines reifen
Menschen“).
So
ist der erste Ton vielfältigen Affekten ein Gefäss.
Ich
habe zur Bestätigung noch zwei Zitate im Mittelalter gefunden:
Johannes
Aegidius von Zamora, der in der 2. Hälfte
des 13. Jhs. lebte und der nach seinem Generalstudium in Paris (!)
Magister der Theologie in Spanien war, schreibt in seiner
Ars musica:
„Et
notandum, quod primus tonus est
nobilis et habilis
et ad omnes secundum affectus aptabilis.“ [„Es ist zu
bemerken, dass der erste Ton vornehm und behende
ist und demnach geeignet ist für alle Gemütsbewegungen.“]
Und
im „Tractatus de musica
cujusdam Carthusiensis monachi“ (alle Zitate
aus der Patrologia Graeco
- Latina) lesen wir:
„Primus
tonus apud musicos ponitur motivus, id est,
habilis ad movendum
(hoc est dictu), quod
requirit materiam
per quam animus moveri
possit ad varios
effectus; et ergo communiter in
historiis;“ [„Der erste Ton wurde bei den Musikern als ‘motivus’ gesetzt. Seine Eignung, ein stoffliches Mittel zu
suchen, das ihm die Beweglichkeit des Geistes zu verschiedenen Affekten
ermöglicht, macht ihn deshalb vorrangig auch verwendbar bei Historien.“]
Dort
auch der Vers: „Mobilis est
habilis prothus
quia novit ad omnes
// Affectus animi
flectere neuma prothi“. [„Sehr beweglich ist der Protus,
weil die Beweglichkeit des Protus alle Gemütsbewegungen
des Geistes zu bilden weiß.“]
So
also die mittelalterliche Denkweise:
Aufgrund
der zahlenmäßigen Vorstellungen ist die Eins Einheit und Ausgangspunkt
aller Zahlen (übrigens qua Division, nicht qua Addition!), und in Analogie
wird der 1. Modus als Zeichen der Einheit zum Ursprung der Melodien
und wegen der Fähigkeit seines Vielfältigseins auch Ursprung und Quelle
für viele Affekte.
Soweit
zum Text und zur Person des 1. Modus.
Zum
Instrument:
Die
Laute auf dem Tonus-Relief ist eine der ältesten,
die uns bekannt ist. Wenn selbst erst das 16. Jh. die Laute als Fürstin (!) der Instrumente bezeichnet,
so kennen wir sie trotzdem schon früher als ein Instrument in der Hand
von Fürsten (Fürst kommt von first - der Erste).
Nicht nur das weist uns wieder den Weg des Symbols. Auch die Tatsache,
dass des Jüngers Aufmerksamkeit gar nicht auf das Spiel gerichtet ist,
noch darüber hinaus er sein Instrument ganz unmusikalisch hält, zeigt
uns erneut, dass es wichtig ist, nicht zu fragen, welche Melodien der
Jüngling da spielt, was er tut, sondern was das Attribut bedeutet.
(vgl.
Florianattribut Eimer)
Wir
werden den Symbolismus der Laute klären im Zusammenhang mit der Lyra
des 3. Tonus, mit der sie im Mittelalter
häufig identifiziert wird.
Der 2. Ton
Die
Darstellung des zweiten Tones zeigt eine Frau, eine Tänzerin mit Cymbeln. Es ist unter den 8 Personifikationen die einzige
Frau.
Wie
beim ersten Ton zielt die Zuweisung wieder auf eine zahlenmäßige Reihenfolge
ab.
Die
Zahl zwei: Sie ist das 1. Ergebnis der Teilung der Zahl 1. Sie gilt
als aus der Ruhe der Eins in die Welt der Veränderlichkeiten führend,
in die Welt des Zweifels, und über die pythagoräischen
Vorstellungen der männlich-ungeraden und weiblich-geraden kommt ihr
das Weibliche zu. In einem Kommentar des schon früher erwähnten Macrobius
lesen wir:
„arithmetici inparem patris et parem matris appellatione venerantur.“[„Die Arithmetiker verehren das Ungerade mit dem
Namen Vater, das Gerade als Mutter.“]
So
wird verständlich, dass in Tradierung dieses antiken Wissens den 2. Ton
eine Frau charakterisieren musste. Hier also sehen wir wieder deutlich,
dass mittelalterliches Kunstschaffen abhängig ist von kunstfremden Bedingungen.
(sic!)
Was
hat es nun mit dieser Gewundenheit auf sich?
Wir
können davon ausgehen, dass das Mittelalter keine Trennung von außen
und innen kennt. So sehen wir ein Mädchen, dessen innere Bewegtheit
an dem gewundenen Körper - der ausgebogenen
Hüfte, dem stark geneigten Kopf mit der diagonal gedehnten und zugleich
herab gedehnten Schulter und den geschwungenen Beinen - abgelesen wird,
wir sehen das seelische Leben als Kurve aufgelöst, gleichsam um eine
innere Winde gedreht. Und so sagt, wie schon beim ersten Tonus,
auch der zweite eine Form des Seelischen aus,
nicht eine Form des Tonus! Doch steht das
Seelische seinerseits wieder zum Ausdruckswert des 2. Modus in
Beziehung, das zeigen uns wieder die Kommentare der Musikwissenschaftler,
die die raue und jäh hervorstürzende Gravitas
(„praecipites et obscurae gravitates
secundi toni“) des
2. Tones herausstellen. So insbesondere der anonyme Verfasser der
„Summa musica“ (früher Johannes de muris
zugeschrieben); andere sprechen von der „rauca
secundi gravitas“, also von der
rauen Würde des 2. Tones. Er steht dann weiterhin auch im eigentümlichen
Zeichen der melodia anfracta,
der gebrochenen Linie, ein Terminus, der vornehmlich bei dem berühmten
mittelalterlichen Musiktheoretiker Guido von Arezzo
vorkommt. Er liegt im übrigen, was nur wenige
wissen, im Speyrer Dom begraben.
(In
den Regulae musicae
de ignoto cantu lesen wir: „alter modus vero anfractis
saltibus concinatur“
oder „Mobilitas primi iuvat anfractusque secundi“.)
Wir
können also durchaus sagen, dass der Meister der Kapitelle die Bestimmungen
der Musikgelehrten gekannt hat. Diese Kenntnis vom Kanon der musikalischen
Affekte war so verpflichtend, dass der Künstler sich diesem unterwarf
und er die Gestalt in ihrer Gebärde so formte, dass auch sie diese gewundene
Bewegung des 2. Tones spiegelte.
Zum
Instrument der Cymbeln:
Wir
haben gesehen, dass in der plastischen Figur die Wirkung des 2. Tones
abgebildet wurde, die sich in zusammengesetzten und gebrochenen Bewegungen
ausdrückt. Wenn also der Meister eine figura
anfracta formte und das Gedanklich-Seelische damit meinte,
müsste er auch für die Gedanken der Seele in den Cymbeln
ein Symbol gefunden haben. In der Tat gibt es einen Brief des Kirchenlehrers
und Patriarchen von Alexandrien (295-373) Athanasius, den er an Marcellin schrieb und der Interpretationen der Psalmen widmete
(Patrolologia Graeco-
Latina, Bd. 27, S. 41):
„Zum
Lobe Gottes gebrauche man wohlklingende Cymbeln
und die Kithara, das 10‑saitige Psalterion.
Einem Symbol gleich sind in ihnen die Saiten zu einem gewissen Verhalt
der Körperglieder zu beziehen, die Cymbeln
aber erscheinen als Gedanken der Seele.“
Andere
Deutungen weisen die zwei (!) Cymbeln als
Symbole für die beiden Lippen, die Gott preisen, aus.
Der 3. Ton
Das
ist eine eigentümliche Gestalt. Ein bärtiger Mann, an einen Sitz gelehnt,
spielt eine Lyra. Er ist über sie gebeugt, er trägt eine starre, in
sich gekehrte Miene. Auch der Blick auf sein Auge, das so deutlich gebildet
ist, gibt mehr Rätsel auf, als er löst. Und dann die Umschrift. Soll
die Musik historisches Ereignis nachbilden können?
Wie
also sich der Gestalt nähern?
Zunächst
dürfen wir annehmen, dass die Gestalt David meint. Er ist Ahne Christi
und spielt in der Musikgeschichte eine besondere Rolle. Davids vornehmliche
Bedeutung wurde von jeher in seiner heilbringenden
Kraft gesehen, in dieser Kraft er selbst ein tätiger Gott ist, der mit
der Musik den Saul und seine bösen Gedanken bezwingt (
wie ein Orpheus den Charon, wie ein Apollo die Tiere, wie Christus
den Tod!). Und wo er als einer gilt, der zu lösen vermag, da hat sich
seiner gerade als Vorläufer des Erlösers die bildende Kunst bemächtigt.
Deswegen unterliegt es wohl kaum einem Zweifel, dass in der Figur des
3. Tones David dargestellt ist. Aber es bleibt die Frage, inwieweit
der 3. Ton befähigt gewesen ist, die Auferstehung zu erzählen.
Diese Frage einfach so zu bejahen, wäre auch der mittelalterlichen Musik
nicht im Traum eingefallen. Hören wir die 4. Strophe des Kreuzhymnus
des Venantius Fortunatus:
„Impleta sunt quae
concinit,
[„Erfüllt ist jetzt, was David sang,
David
fideli carmine,
Im glaubwürdigen Psalmenlied,
Dicendo nationibus:
Den Völkern kündend,
dass nun Gott
Regnavit a ligno
Deus“ Als König herrschen
wird vom Holz. “]
Leo
Schrade, der einzige, von dem ich etwas Schriftliches
gefunden habe zu den Darstellungen der Töne (veröffentlicht in der Deutschen
Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
7/1929) schreibt in dieser Darstellung: „Wenn das Leiden und die Auferstehung
des Messias mit musikalischen Mitteln dargestellt werden sollte, so
musste das Symbol als Vermittler bildhafter Form gerade hier am dichtesten
einsetzen. Wenn ferner die Heilstatsache einen symbolisch-personalen
Ausdruck aus dem alten Testament finden und sie in einer gewissen Beziehung
zur Musik verbleiben sollte, dann konnte dieser Ausdruck nur in David
die gemäße Form erhalten. “
Das
ihm beigegeben Instrument der Kithara unterstützt
dabei auf besonders schöne Weise diesen Schluss:
Gregor
der Grosse schreibt über die Kithara:
„Sed cum praedicatores descendunt, ante se psalterium,
tympanum, tibiam, et citharam deferunt. Citharam quoque habent, quia gaudere pios
pro certitudine aeternorum
bonorum edocent. - Cithara autem valde
laetum musicum est instrumentum. (Quo nimirum instrumento verbum solatii electorum apte figuratur: quia velut ad sonum citharae hilarescimus, quando nos electi
praedicatores inter aerumnas
praesentis exsilii
consolantur.)“ [„Die Praedicatores
stiegen vom Himmel herab und hielten vor sich das Psalterium,
das Tympanum, die Tibia
und die Kithara. Sie trugen die Kithara,
um den Frommen die Freude an der Gewissheit der ewigen Güter zu lehren.
Überhaupt ist sie ein in den Mühsalen der gegenwärtigen Verbannung trostspendendes, freudiges Instrument.“]
Nicetius, der Bischof von Lyon war
und von 513 -573 lebte, - er war bekannt wegen seiner großen Frömmigkeit
und Tatkraft und wegen seiner Bemühungen um die Hebung des Kirchengesanges und der kirchlichen Disziplin - schreibt in
seiner Abhandlung „de laude et utilitate spiritualium canticorum“:
„Qui adhuc puer
David in cithara suaviter
fortiterque canens malignum spiritum, qui operabatur in Saulum, compescuit, non quod citharae illius
tanta virtus esset,
sed quia figura
crucis Christi, quae
in ligno et extensione nervorum mystice gerebatur iam tunc,
spiritum daemoniis
opprimebat.“ [„Der Knabe David sang süss und voller Kraft
zur Kithara und trieb so den bösen Geist aus,
der in Saul wirkte. Doch dies geschah nicht etwa durch die zwingende
Gewalt der Kithara, sondern weil schon damals im Holz und in der Spannung
der Saiten die Figur des Kreuzes geheimnisvoll tätig war.“]
Übrigens
spricht auch der berühmte Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus
(485-538) vom Psalterium als Symbol des Corpus
Christi. (Cassiodor hatte sich zunächst der
Politik und Verwaltung verschrieben, zog sich 538 dann nach seiner Konversion
aus diesen Gebieten zurück. Er sorgte im übrigen
für die geistliche und weltliche Bildung vor allem der Mönche durch
einen von ihm entworfenen Studienplan, der durch Einschluss der 7 artes
liberales die Kultur der Antike bewahren half.)
Auch
Rufinus von Aquileja (345-410), der wichtige
griechische Literatur der theologischen und ästhetischen Welt des Abendlandes
zugänglich gemacht hat, sagt in seinem Kommentar zum 56. Psalm: „Caro
humana patiens cithara est.“ („Das duldende, menschliche
Fleisch ist die Kithara.“)
Und
noch einmal Gregor der Grosse: “Citharam percutit, qui cum a mortuis surrexisse, et ad caelos ascendisse dicat.“ [„Er spielt die Kithara,
um zu sagen, dass wir von den Toten auferstehen und zum Himmel aufsteigen
werden.“] (Vgl. hier den Hymnentext von Venantius
Fortunatus!)
Wir
haben gesehen, dass es also mehrfache Beziehungen gibt, die von der
Kithara aus den Weg zu Leiden und Auferstehung weisen, und
wir dürfen annehmen, dass dem Gestalter der Kapitelle diese Texte durchaus
geläufig waren.
Die
letzte Frage bleibt: Warum wird nun dem dritten Ton die resurrectio
zugeschrieben? Die Zahl drei hat nicht nur in pythagoräisch
beeinflussten Kreisen, sondern ebenso in frühchristlicher und mittelalterlicher
Zeit und in der gesamten christlichen Weltanschauung eine unerhörte
Rolle und ganz besonders innerhalb des musikalischen Denkens gespielt
(Denken Sie nur an die im Mittelalter ausschliesslich gehandhabte ternäre
Ordnung der Notenwertordnung (Perfectio)).
Aber wir brauchen hier gar nicht mehr so weit ausholen. Viel näher liegt
es, die Zahl drei selbst zur Auferstehung Christi unmittelbar zu beziehen,
und zwar im Anschluss an den Bericht über die Erlösungstat Christi:
Christus ist am dritten Tag auferstanden. Diese Tatsache kann als hinreichender
Grund gelten, die Resurrectio an den dritten
Ton zu knüpfen. Ist es da nicht bedeutsam, dass der Jüngling mit dem
Zeigefinger seiner Rechten auf die dritte Saite seines Instrumentes
zeigt?
Schluss
Soweit
meine Ausführungen zu ausgewählten Beispielen der Toni-Darstellungen.
Ich
wollte Ihnen mit den Querverweisen von Musik und Plastik und Umschrift
einen kleinen Einblick in das Denken einer Zeit gewähren, dessen gesungene
Spiritualität aus dem Gregorianischen Choral lebte. Ich möchte damit auch unser singendes und übendes Tun abgerundet
und ergänzt haben. Es ist, denke ich, wichtig, sich auch in den geistesgeschichtlichen
Umfeldern der Zeiten umzuschauen, in denen der Choral doch in seiner
Hochblüte stand. Gleichwohl darf nicht verschwiegen werden, dass der
Choral von Anbeginn und Entstehung her sich nur in moderatem Maße antikem
und griechischem Geist verdankt, dass er hingegen auch reich aus einem
orientalischem Geist atmete, der z. B. noch in einigen Stücken überlebte,
die sich der strikten Einordnung in einen Tonus
verweigern. (vgl. Bericht aus Verona). Nichtsdestotrotz war mir sehr
wichtig, mit diesen Ausführungen klarzumachen, wie das Mittelalter gedacht
hat, zu dokumentieren, dass das mittelalterliche Weltbild zwar nicht
rational aber kohärent war, sich aus assoziativem, bildorientiertem
und integrativem Denken speiste, einem Denken, das unser heutiges rationales,
diskursives, formelhaftes Denken eigentlich recht gut ergänzen könnte
zu einem ganzheitlichen Denken.
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