Vom Ethos der Tonarten

Betrachtungen ausgewählter Beispiele der Toni-Darstellungen
an den Kapitellen von Cluny.

Einleitung

Im Sommer 1986 war es mir vergönnt, das Burgund zu bereisen. Am Ende der Begegnung mit den architektonischen und bildnerischen Herrlichkeiten stand auch ein Besuch von Cluny. Nachdem ich mich vor der Reise eingehend mit der Geschichte und dem Bau der Abtei befasst hatte, stand ich fassungslos vor der systematischen Zerstörungswut der Revolution von 1789. Nach 880 Jahren war die gigantische Abtei, die bis zur Errichtung des Petersdomes in Rom die größte Kirche der Christenheit in ihren Mauern beherbergte - Hinweis auf Bild, Mappe Nr. 2a -, zur nationalen Beute erklärt und 3 Jahre später an einen Bauunternehmer aus dem nahen Mâcon als Steinbruch verkauft worden, für 2 Millionen Franc Papiergeld, das ein paar Wochen später nicht einmal mehr die Tinte unter dem Kaufvertrag wert war. Vandalismus ist noch eine bodenlose Untertreibung für das, was sich bis 1823 dort abspielte.

Bei einer Sprengung in diesem Jahr fallen im Chor auch jene berühmten 8 Kapitelle, die den Chor trugen und eine Corona sonderlicher Art um den Altar bildeten und deren drei heute Gegenstand näherer Betrachtung sein sollen. Sie blieben wie durch ein Wunder erhalten, doch verletzt waren sie alle. Sie sind heute mit anderen Gegenständen als Reste im Musée Ochier aufbewahrt. Diese Reste zeigen eigentlich nur, wie brutal der Spekulant aus Mâcon mit seiner schwarzen Bande die Goldgrube ausgeplündert hat.

Doch müssen wir ehrlicherweise auch sagen, dass das burgundische Zion nicht von heute auf morgen starb. „Die Mutter der abendländischen Kultur“ - so nannte es der berühmte französische Architekt Violet- le Duc  - war am Vorabend der Revolution nur noch ein riesiger Körper ohne Seele. Von den einstmals 450 Mönchen waren vielleicht vierzig übriggeblieben, die den Strengen Regeln des heiligen Benedikt nur noch wenig, dem stets gut gefüllten Weinkeller umso mehr abgewinnen konnten. Die große Zeit des Petrus Venerabilis, als 600 Klöster und 12'000 Mönche in ganz Europa dem Abt von Cluny unterstanden, gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die Bauten der berühmten Äbte Odo, Majolus, Odilo und Hugo, die heute noch am 29. April als Heilige gefeiert werden und für die das Antiphonale eigene Antiphonen ausweist. Die vierte unter ihnen erzählt vom Tode des hl. Hugo während der Auferstehungsliturgie und nimmt dabei melodisch Bezug zum Exsultet (AM 876). Dass 600 Jahre später der Prior Dom Dathoze 1750 einen Teil des architektonischen Wunders abreißen und an dessen Stelle ein Schloss im Stil Ludwig des XV. errichten ließ, war eigentlich schon der Anfang vom Ende. Seinen politischen Einfluss hatte das Kloster längst an Paris verloren. Und das, was die verweltlichten Prälaten durch den Neubau an Komfort gewannen, verlor die Kunstwelt an romanischen Schätzen.

Hauptteil

Die berühmten Kapitelle mit den Skulpturen entstehen wohl zwischen 1109 und 1122. Sie sind in dreifacher Hinsicht ausgezeichnet:

 

·       Der musikalische Tonus wird durch plastische Mittel ausgedrückt.

·       Es liegt ein geschlossener Zyklus vor.

·       Jedem Tonus ist eine umgebende Inschrift zugeordnet.

 

Weiterhin ist anzumerken, dass die Kapitelle zwar alle acht Tonarten aufweisen, dass aber nur die ersten vier gut erhalten sind. Die zweite Reihe am zweiten Kapitell wird in den Figuren nicht mehr verständlich. Neben den Toni-Darstellungen findet sich an den Kapitellen bekanntlich noch der Zyklus der Jahreszeiten, dem vier Tugenden  beigeordnet sind. An den letzten Kapitellen kommen dazu noch die vier Paradiesflüsse, vier Paradiesbäume und die Arbeiten auf der Erde.

Damit haben wir mittelalterliche Zeugen vor uns, in denen musikalische Sachverhalte mit einem plastischen Motiv und mit dem Sinn eines Wortes in Verbindung gebracht und ganzheitlich geklärt werden.

Zusammen mit den anderen Kapitellen dokumentieren sie auf einzigartige Weise den Zusammenhang, der zwischen Mathematik, Baukunst und Musik herrschte und als Gleichnis göttlicher Harmonie galt.

Die drei ausgewählten Beispiele liegen Ihnen in Kopien vor, die ich von einem Fotoabzug der damals in Cluny erworbenen Dias anfertigte. Sie sind nur ein schwacher Abglanz der Herrlichkeit der Kapitelle, mögen aber heute Abend zur Veranschaulichung genügen. Wir sehen an ihnen,

 

·       wie die Personen mit ihren Instrumenten in der Mandorla als Schale wie auf einer Bühne - lebhaft bewegt - agieren,

 

·       wie der Meissel den materiellen Charakter des Steines vergessen gemacht hat - auch hier ist ein Geist Sieger über den Stoff geblieben.

 

Die Kapitelle zeigen eigentlich Un- darstellbares:

Sie veranschaulichen die gregorianischen Töne, ein Musiksystem, ein sinnlich- übersinnliches, in dem das Diesseits dem Jenseits ohne Bruch verbunden war.

Wir müssen uns aber vor einer genaueren Einzelbetrachtung doch drei wichtige Gegebenheiten des mittelalterlichen Musikverständnisses vorab klarmachen.

1. Mittelalterliches Musikverständnis kennt weder im Sinne einer Ideenlehre so etwas wie „die Musik an sich“ noch ist der in der Musik entstehende Gefühlsverhalt an ein subjektives Individuum gebunden. Deswegen müssen wir auch klar unterscheiden und beachten: Es geht hier zunächst nicht um den Charakter einzelner Gesänge, wie wir sie heute vielleicht empfinden, sondern eben um den 1. Tonus. In der Anlage befindet sich dann aber auch noch eine Seite, auf der Charakterisierungen in unserem Sinne zusammengestellt sind. Sie stammen aus einer Liste, die ich 1984 von dem Kantor der Benediktinerabtei En-Calcat erhielt.

2.  Im Mittelalter war diese Absolutheit schon deswegen unmöglich, weil Musik als Wissen galt und klar anderen Wissenszweigen zugeordnet war (Quadrivium: Musik, Astronomie, Geometrie und Arithmetik).

3. Der in der Musik entstehende Gefühlsverhalt war innerhalb des „Ordo“ geregelt, d.h. die seelischen Formen des Musik-Erlebens waren nach Kategorien geordnete, allgemeine Haltungen, deren Herkunft wahrscheinlich auf die Lehre der Temperamente zurückzuführen ist.

4. Die Umschriften werden uns Hilfe leisten können bei der Deutung der bildnerischen Darstellung, umso mehr, als uns die Gebärdensprache des Mittelalters nicht mehr ohne weiteres verständlich ist.  

5. Die Umschriften ihrerseits verweisen im symbolischen Ausdruck auf außermusikalische Zusammenhänge und damit klar auf die Gebundenheit des musikalischen Denkens.

Der 1. Ton

Die Erklärung des 1. Tons ist schwierig. Wir müssen uns vor Augen stellen, dass in der Zahlensymbolik die hier genannte Zahl eigentlich keine Zahl wie irgend eine andere ist - der Grieche nennt sie monás im Gegensatz zu arithmós -, sondern für Beginn, Quelle, Ursprung steht. Sie wird als Ursprung des ihr Folgenden, als Ursprung der Vielheiten angesehen. An dieser Bestimmung schon wird verständlich, wenn - freilich in platonischer Philosophie wurzelnd - die erste Zahl eine Gottbezogenheit offenbart (In der Tat ist das der Eins zugeordnete Kreissymbol ja auch mit göttlicher Wesensbestimmung gekoppelt). Der lateinische Schriftsteller Ambrosius Theodosius Macrobius, der Anfang des 5. Jhs. gelebt hat, schreibt in seinem neuplatonischen Kommentar zu Ciceros „Somnium Scipionis“:

Unum autem, quod monas, id est unitas, dicitur, et mas idem et femina est, par idem atque impar, ipse non numerus sed fons et origo numerorum. Haec monas, initium finisque omnium, neque ipsa principii aut finis sciens, ad summum refertur deum eiusque intellectum a sequentium numero rerum et potestatem sequestrat.“ [„Die Eins aber, die monas genannt wird, ist also Einheit, sie ist gleich männlich und weiblich, ebenso gerade und ungerade, sie selbst ist nicht Zahl (arithmós!) sondern Quelle und Ursprung. Diese Einheit, Beginn und Ende von allem, kennt weder Anfang noch Ende, gehört damit zum Höchsten Gott und ist Vermittler seines Geistes zu der Zahl aller folgenden Dinge“.] (Es gibt also eine klare Verbindung von oben und unten!)

Das Mittelalter ist weitergegangen und hat Einheit und Musik gleichgesetzt, da es der Überzeugung war, dass sie auf dem Grund der gottnahen Einheit ruht.

Wir haben schon gesehen, dass das Einheitliche dadurch gekennzeichnet war, dass es eine Beziehung zum Vielfachen hatte, und so hat als Ursprung aller Dinge der erste Modus eine Eigenschaft, die ihn als „fons et origo“ (vgl. Tropus!) ausweist. Er also ist die Form des einfachen, des einmal gefalteten, das die Entfaltung zur Vielheit in sich trägt. Jetzt ist klar, dass dem 1. Modus eine gehaltreiche Summe von Affekten zugeordnet wurde:

 

·         Die „nobilitas“: d.i. eine Vornehmheit, die zu ihm gehört wegen des göttlichen Wesens der Einheit.

 

·         Die „gravitas“: d.i. eine aus dem selben göttlichen Wesen abgeleitete Würde.

 

·         Die „vagatio curialis“: d.i. eine Melodienweite besonders vornehmer Grösse.

 

·         Die „morositas“: d.i. ein Ernst, eine Haltung der Strenge.

 

Hier liegt wohl eine Annäherung an die Jünglingsgestalt begründet, die einen sog. „iuvenis morosus“ zeigt (Benedikt Gregor Dialoge: „Von Kindheit an zeigte er die Einsicht eines reifen Menschen“).

So ist der erste Ton vielfältigen Affekten ein Gefäss.

Ich habe zur Bestätigung noch zwei Zitate im Mittelalter gefunden:

Johannes Aegidius von Zamora, der in der 2. Hälfte des 13. Jhs. lebte und der nach seinem Generalstudium in Paris (!)  Magister der Theologie in Spanien war, schreibt in seiner Ars musica:

„Et notandum, quod primus tonus est nobilis et habilis et ad omnes secundum affectus aptabilis.“ [„Es ist zu bemerken, dass der erste Ton vornehm und behende ist und demnach geeignet ist für alle Gemütsbewegungen.“]

 

Und im „Tractatus de musica cujusdam Carthusiensis monachi  (alle Zitate aus der Patrologia Graeco - Latina) lesen wir:

 „Primus tonus apud musicos ponitur motivus, id est, habilis ad movendum (hoc est dictu), quod requirit materiam per quam animus moveri possit ad varios effectus; et ergo communiter in historiis;“ [„Der erste Ton wurde bei den Musikern als ‘motivus’ gesetzt. Seine Eignung, ein stoffliches Mittel zu suchen, das ihm die Beweglichkeit des Geistes zu verschiedenen Affekten ermöglicht, macht ihn deshalb vorrangig auch verwendbar bei Historien.“]

Dort auch der Vers: „Mobilis est habilis prothus quia novit ad omnes // Affectus animi flectere neuma prothi“. [„Sehr beweglich ist der Protus, weil die Beweglichkeit des Protus alle Gemütsbewegungen des Geistes zu bilden weiß.“]

So also die mittelalterliche Denkweise:

Aufgrund der zahlenmäßigen Vorstellungen ist die Eins Einheit und Ausgangspunkt aller Zahlen (übrigens qua Division, nicht qua Addition!), und in Analogie wird der 1. Modus als Zeichen der Einheit zum Ursprung der Melodien und wegen der Fähigkeit seines Vielfältigseins auch Ursprung und Quelle für viele Affekte.

Soweit zum Text und zur Person des 1. Modus.

Zum Instrument:

Die Laute auf dem Tonus-Relief ist eine der ältesten, die uns bekannt ist. Wenn selbst erst das 16. Jh. die Laute als Fürstin (!) der Instrumente bezeichnet, so kennen wir sie trotzdem schon früher als ein Instrument in der Hand von Fürsten (Fürst kommt von first - der Erste). Nicht nur das weist uns wieder den Weg des Symbols. Auch die Tatsache, dass des Jüngers Aufmerksamkeit gar nicht auf das Spiel gerichtet ist, noch darüber hinaus er sein Instrument ganz unmusikalisch hält, zeigt uns erneut, dass es wichtig ist, nicht zu fragen, welche Melodien der Jüngling da spielt, was er tut, sondern was das Attribut bedeutet.

(vgl. Florianattribut Eimer)

Wir werden den Symbolismus der Laute klären im Zusammenhang mit der Lyra des 3. Tonus, mit der sie im Mittelalter häufig identifiziert wird.


Der 2. Ton

Die Darstellung des zweiten Tones zeigt eine Frau, eine Tänzerin mit Cymbeln. Es ist unter den 8 Personifikationen die einzige Frau.


Wie beim ersten Ton zielt die Zuweisung wieder auf eine zahlenmäßige Reihenfolge ab.

Die Zahl zwei: Sie ist das 1. Ergebnis der Teilung der Zahl 1. Sie gilt als aus der Ruhe der Eins in die Welt der Veränderlichkeiten führend, in die Welt des Zweifels, und über die pythagoräischen Vorstellungen der männlich-ungeraden und weiblich-geraden kommt ihr das Weibliche zu. In einem Kommentar des schon früher erwähnten Macrobius lesen wir:

 arithmetici inparem patris et parem matris appellatione venerantur.“[„Die Arithmetiker verehren das Ungerade mit dem Namen Vater, das Gerade als Mutter.“]

So wird verständlich, dass in Tradierung dieses antiken Wissens den 2. Ton eine Frau charakterisieren musste. Hier also sehen wir wieder deutlich, dass mittelalterliches Kunstschaffen abhängig ist von kunstfremden Bedingungen. (sic!)

Was hat es nun mit dieser Gewundenheit auf sich?

Wir können davon ausgehen, dass das Mittelalter keine Trennung von außen und innen kennt. So sehen wir ein Mädchen, dessen innere Bewegtheit an dem gewundenen Körper - der ausgebogenen Hüfte, dem stark geneigten Kopf mit der diagonal gedehnten und zugleich herab gedehnten Schulter und den geschwungenen Beinen - abgelesen wird, wir sehen das seelische Leben als Kurve aufgelöst, gleichsam um eine innere Winde gedreht. Und so sagt, wie schon beim ersten Tonus, auch der zweite eine Form des Seelischen aus, nicht eine Form des Tonus! Doch steht das Seelische seinerseits wieder zum Ausdruckswert des 2. Modus in Beziehung, das zeigen uns wieder die Kommentare der Musikwissenschaftler, die die raue und jäh hervorstürzende Gravitas („praecipites et obscurae gravitates secundi toni“) des 2. Tones herausstellen. So insbesondere der anonyme Verfasser der „Summa musica“ (früher Johannes de muris zugeschrieben); andere sprechen von der „rauca secundi gravitas“, also von der rauen Würde des 2. Tones. Er steht dann weiterhin auch im eigentümlichen Zeichen der melodia anfracta, der gebrochenen Linie, ein Terminus, der vornehmlich bei dem berühmten mittelalterlichen Musiktheoretiker Guido von Arezzo vorkommt. Er liegt im übrigen, was nur wenige wissen, im Speyrer Dom begraben.

(In den Regulae musicae de ignoto cantu lesen wir: „alter modus vero anfractis saltibus concinatur“ oder „Mobilitas primi iuvat anfractusque secundi“.)

Wir können also durchaus sagen, dass der Meister der Kapitelle die Bestimmungen der Musikgelehrten gekannt hat. Diese Kenntnis vom Kanon der musikalischen Affekte war so verpflichtend, dass der Künstler sich diesem unterwarf und er die Gestalt in ihrer Gebärde so formte, dass auch sie diese gewundene Bewegung des 2. Tones spiegelte.

Zum Instrument der Cymbeln:

Wir haben gesehen, dass in der plastischen Figur die Wirkung des 2. Tones abgebildet wurde, die sich in zusammengesetzten und gebrochenen Bewegungen ausdrückt. Wenn also der Meister eine figura anfracta formte und das Gedanklich-Seelische damit meinte, müsste er auch für die Gedanken der Seele in den Cymbeln ein Symbol gefunden haben. In der Tat gibt es einen Brief des Kirchenlehrers und Patriarchen von Alexandrien (295-373) Athanasius, den er an Marcellin schrieb und der Interpretationen der Psalmen widmete (Patrolologia Graeco- Latina, Bd. 27, S. 41):

„Zum Lobe Gottes gebrauche man wohlklingende Cymbeln und die Kithara, das 10‑saitige Psalterion. Einem Symbol gleich sind in ihnen die Saiten zu einem gewissen Verhalt der Körperglieder zu beziehen, die Cymbeln aber erscheinen als Gedanken der Seele.“

Andere Deutungen weisen die zwei (!) Cymbeln als Symbole für die beiden Lippen, die Gott preisen, aus.

Der 3. Ton

Das ist eine eigentümliche Gestalt. Ein bärtiger Mann, an einen Sitz gelehnt, spielt eine Lyra. Er ist über sie gebeugt, er trägt eine starre, in sich gekehrte Miene. Auch der Blick auf sein Auge, das so deutlich gebildet ist, gibt mehr Rätsel auf, als er löst. Und dann die Umschrift. Soll die Musik historisches Ereignis nachbilden können?

Wie also sich der Gestalt nähern?

Zunächst dürfen wir annehmen, dass die Gestalt David meint. Er ist Ahne Christi und spielt in der Musikgeschichte eine besondere Rolle. Davids vornehmliche Bedeutung wurde von jeher in seiner heilbringenden Kraft gesehen, in dieser Kraft er selbst ein tätiger Gott ist, der mit der Musik den Saul und seine bösen Gedanken bezwingt ( wie ein Orpheus den Charon, wie ein Apollo die Tiere, wie Christus den Tod!). Und wo er als einer gilt, der zu lösen vermag, da hat sich seiner gerade als Vorläufer des Erlösers die bildende Kunst bemächtigt. Deswegen unterliegt es wohl kaum einem Zweifel, dass in der Figur des 3. Tones David dargestellt ist. Aber es bleibt die Frage, inwieweit der 3. Ton befähigt gewesen ist, die Auferstehung zu erzählen. Diese Frage einfach so zu bejahen, wäre auch der mittelalterlichen Musik nicht im Traum eingefallen. Hören wir die 4. Strophe des Kreuzhymnus des Venantius Fortunatus:

Impleta sunt quae concinit,     [„Erfüllt ist jetzt, was David sang,

David fideli carmine,                Im glaubwürdigen Psalmenlied,

Dicendo nationibus:                  Den Völkern kündend, dass nun Gott

Regnavit a ligno Deus“              Als König herrschen wird vom Holz. “]

Leo Schrade, der einzige, von dem ich etwas Schriftliches gefunden habe zu den Darstellungen der Töne (veröffentlicht in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7/1929) schreibt in dieser Darstellung: „Wenn das Leiden und die Auferstehung des Messias mit musikalischen Mitteln dargestellt werden sollte, so musste das Symbol als Vermittler bildhafter Form gerade hier am dichtesten einsetzen. Wenn ferner die Heilstatsache einen symbolisch-personalen Ausdruck aus dem alten Testament finden und sie in einer gewissen Beziehung zur Musik verbleiben sollte, dann konnte dieser Ausdruck nur in David die gemäße Form erhalten. “

Das ihm beigegeben Instrument der Kithara unterstützt dabei auf besonders schöne Weise diesen Schluss:

Gregor der Grosse schreibt über die Kithara:

 

Sed cum praedicatores descendunt, ante se psalterium, tympanum, tibiam, et citharam deferunt.  Citharam quoque habent, quia gaudere pios pro certitudine aeternorum bonorum edocent. - Cithara autem valde laetum musicum est instrumentum. (Quo nimirum instrumento verbum solatii electorum apte figuratur: quia velut ad sonum citharae hilarescimus, quando nos electi praedicatores inter aerumnas praesentis exsilii consolantur.)“ [„Die Praedicatores stiegen vom Himmel herab und hielten vor sich das Psalterium, das Tympanum, die Tibia und die Kithara. Sie trugen die Kithara, um den Frommen die Freude an der Gewissheit der ewigen Güter zu lehren. Überhaupt ist sie ein in den Mühsalen der gegenwärtigen Verbannung trostspendendes, freudiges Instrument.“]

Nicetius, der Bischof von Lyon war und von 513 -573 lebte, - er war bekannt wegen seiner großen Frömmigkeit und Tatkraft und wegen seiner Bemühungen um die Hebung des Kirchengesanges  und der kirchlichen Disziplin - schreibt in seiner Abhandlung „de laude et utilitate spiritualium canticorum“:

 Qui adhuc puer David in cithara suaviter fortiterque canens malignum spiritum, qui operabatur in Saulum, compescuit, non quod citharae illius tanta virtus esset, sed quia figura crucis Christi, quae in ligno et extensione nervorum mystice gerebatur iam tunc, spiritum daemoniis opprimebat.“ [„Der Knabe David sang süss und voller Kraft zur Kithara und trieb so den bösen Geist aus, der in Saul wirkte. Doch dies geschah nicht etwa durch die zwingende Gewalt der Kithara, sondern weil schon damals im Holz und in der Spannung der Saiten die Figur des Kreuzes geheimnisvoll tätig war.“]

Übrigens spricht auch der berühmte Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus (485-538) vom Psalterium als Symbol des Corpus Christi. (Cassiodor hatte sich zunächst der Politik und Verwaltung verschrieben, zog sich 538 dann nach seiner Konversion aus diesen Gebieten zurück. Er sorgte im übrigen für die geistliche und weltliche Bildung vor allem der Mönche durch einen von ihm entworfenen Studienplan, der durch Einschluss der 7 artes liberales die Kultur der Antike bewahren half.)

 Auch Rufinus von Aquileja (345-410), der wichtige griechische Literatur der theologischen und ästhetischen Welt des Abendlandes zugänglich gemacht hat, sagt in seinem Kommentar zum 56. Psalm: „Caro humana patiens cithara est.“ („Das duldende, menschliche Fleisch ist die Kithara.“)

 Und noch einmal Gregor der Grosse: “Citharam percutit, qui cum a mortuis surrexisse, et ad caelos ascendisse dicat.“ [„Er spielt die Kithara, um zu sagen, dass wir von den Toten auferstehen und zum Himmel aufsteigen werden.“] (Vgl. hier den Hymnentext von Venantius Fortunatus!)

Wir haben gesehen, dass es also mehrfache Beziehungen gibt, die von der Kithara aus den Weg zu Leiden und Auferstehung weisen, und wir dürfen annehmen, dass dem Gestalter der Kapitelle diese Texte durchaus geläufig waren.

Die letzte Frage bleibt: Warum wird nun dem dritten Ton die resurrectio zugeschrieben? Die Zahl drei hat nicht nur in pythagoräisch beeinflussten Kreisen, sondern ebenso in frühchristlicher und mittelalterlicher Zeit und in der gesamten christlichen Weltanschauung eine unerhörte Rolle und ganz besonders innerhalb des musikalischen Denkens gespielt (Denken Sie nur an die im Mittelalter ausschliesslich gehandhabte ternäre Ordnung der Notenwertordnung (Perfectio)). Aber wir brauchen hier gar nicht mehr so weit ausholen. Viel näher liegt es, die Zahl drei selbst zur Auferstehung Christi unmittelbar zu beziehen, und zwar im Anschluss an den Bericht über die Erlösungstat Christi: Christus ist am dritten Tag auferstanden. Diese Tatsache kann als hinreichender Grund gelten, die Resurrectio an den dritten Ton zu knüpfen. Ist es da nicht bedeutsam, dass der Jüngling mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf die dritte Saite seines Instrumentes zeigt?

Schluss

Soweit meine Ausführungen zu ausgewählten Beispielen der Toni-Darstellungen.

Ich wollte Ihnen mit den Querverweisen von Musik und Plastik und Umschrift einen kleinen Einblick in das Denken einer Zeit gewähren, dessen gesungene Spiritualität aus dem Gregorianischen Choral lebte. Ich möchte  damit auch unser singendes und übendes Tun abgerundet und ergänzt haben. Es ist, denke ich, wichtig, sich auch in den geistesgeschichtlichen Umfeldern der Zeiten umzuschauen, in denen der Choral doch in seiner Hochblüte stand. Gleichwohl darf nicht verschwiegen werden, dass der Choral von Anbeginn und Entstehung her sich nur in moderatem Maße antikem und griechischem Geist verdankt, dass er hingegen auch reich aus einem orientalischem Geist atmete, der z. B. noch in einigen Stücken überlebte, die sich der strikten Einordnung in einen Tonus verweigern. (vgl. Bericht aus Verona). Nichtsdestotrotz war mir sehr wichtig, mit diesen Ausführungen klarzumachen, wie das Mittelalter gedacht hat, zu dokumentieren, dass das mittelalterliche Weltbild zwar nicht rational aber kohärent war, sich aus assoziativem, bildorientiertem und integrativem Denken speiste, einem Denken, das unser heutiges rationales, diskursives, formelhaftes Denken eigentlich recht gut ergänzen könnte zu einem ganzheitlichen Denken.

Zurück